Nadia steht konzentriert hinter Bogdan, der, die Ellenbogen auf den Tresen gelehnt, Kaffeespezialitäten mit dem nackten Finger zu Stammkunden sortiert, die hektisch hinter der Glasfassade unseres Stores durch den Nieselregen huschen — wobei huschen das schnelle Gehen beschreibt, das ein etwas zu knapper Anzug (sportliches Modell) und eine schmale MacBook-Tasche eben zulassen. Laufen kann man das nicht nennen, Sprinten schon gar nicht, da sich die Beine des Business nur einen Maximalwinkel von 45 Grad zu öffnen scheinen. Stumpfe Winkel sind für das Privatleben reserviert — „Der Kleine, skinny Latte.“ „Der Alte, double Espresso“, „Der mit den pinken Socken, Latte mit extra shot.“ „Die mit der Brille, skinny Chocolate.“ Nadia weiß gar nicht wohin mit der Informationswelle über Abhängigkeit von Hemdfarbe und Schaumanteil aber Bogdan sagt zur Beruhigung „Das lernst du von alleine“ und zählt schon die Zitronenkuchenstücke. Es sind 7. Nadia schließt den Laden auf und übt weiter Handgriffe an der verspiegelten Siebträgermaschine, die das eigene Gesicht lustig verzerrt, wenn man gestresst siebzehn Ristretto in die Rush Hour zieht. Sie ist seit gestern Teil unserer Costa Coffee Armee und leistet ebenso wie ich Dienst in einer dunkelroten Polouniform für die Elite im Bankenviertel zwischen Lime Street, Fenchurch Ave und Leadenhall Market. Von Montag bis Freitag, von 7 bis 19 Uhr, sind wir ihre Latte Art Bauern, deren Qualität sich einzig dadurch auszeichnet, die Kaffeewünsche und Extravorlieben ihres Adels aus dem Stehgreif zu kennen. Man könnte uns militärmäßig mitten in der Nacht wecken und wir hätten den decaf caramel Macchiato schon halb fertig und die Frage „Brauchen Sie einen Deckel, Miss?“ würde wie ein Stein am Dominoday als Automatismus von ganz alleine fallen. Der Trick ist ganz einfach: noch bevor die blonde Hosenanzugfrau ohne Namen die Theke touchiert, steht ihr wet capuccino perfekt temperiert bereit. Ein wet cappuccino, das nur der Vollständigkeit halber, unterscheidet sich vom dry cappuccino eben dadurch, dass der schaum nicht ganz so fluffig gedampft wurde, sondern noch ein bisschen nasser daherkommt, damit die Milchhaube das darunter liegende Koffein nicht wie eine wohlwollende hand vor der kalten Londoner Luft schützt und sich espresso von foam absetzt und beühend heiß bleibt, sondern, und das ist das alles entscheidende detail, die etwas weniger geschäumte milch sich eben viel besser mit dem Shot vermischen kann.
Ein leiser, kommunikationsnüchterner Service also, der nicht nur vorausgesetzt wird, sondern in seiner Dramaturgie lediglich von neuen Gesichern auf beiden Seiten laut wird. Wenn so ein junger Sales Boy beispielsweise fragt, ob der Haselnuss-Sirup Gluten enthält, gucken wir leer in das Kundengesicht und verweisen auf unsere Chefin, weil wir fernab von standardgewitzten Antworten natürlich keinen Plan haben. Eine Schlange entsteht, Nadias lustiges Gesicht im maschinenspiegel fängt an zu schwitzen. Unsere Chefin, Magdalena, eine junge Polin, die außer mir nur polnische Angestellte hat, kommt dann schnell aus ihrem Kabuff geschmatzt und klärt über jegliche Allergene und so weiter von MONIN Sirups hin, bevor sie mit dem erstem Schritt zurück in der büroecke wieder ihren gewohnt genervten Gesichtsausdruck auflegt. Der Sirup enthält kein Gluten und sofort wird Sales Typ im Hirn in den Haselnuss-Latte-Schuber abgeheftet. „Wenn du dem Typen morgen aus Versehen Lebkuchensirup in seine Milch kippst, kommt er nie wieder!“ droht Magda Nadia noch warnend durch ihre stahlblauen schönen Augen, die bedauerlicherweise in einem ziemlich ausgemergeltem Kopf sitzen.
Auf Fitnessmessen oder Showrooms von Ernährungsergänzungsproduktherstellern gibt es manchmal Waagen, die anhand von ein paar random Parametern das biologische Alter errechnen. Geburtsjahr mal Körperumfang mal Cholesterinwert, und ich wüsste zu gerne, welche Zahl bei Magda auf dem Display stünde. Ihr Job als Managerin ist hierarchielos, weil sie sowohl das Klo putzt, als auch die Abrechnung kontrolliert, als auch Herzen auf Flat Whites gießt und sich um die Bestellungen kümmert. Sie arbeitet und arbeitet und arbeitet, und damit das interne Miteinander nicht auch noch so wahnsinnig anspruchsvoll wie das Publikum der Londoner City ist, stellt sie prinzipiell nur Landsleute ein. „Nur für die Quote“ sagte sie grinsend zu mir, als ich sie einmal fragte, wie ich eigentlich dazwischen gerutscht bin. Die Situation ist eine Zwickmühle, weil wir bekannt sind als der Polencosta und ich dieses schöne Bild natürlich nicht zerstören möchte. Auf der Brust unserer Hemden sind kleine Landesfahnen aus Metall gepinnt. Rot weiß rot weiß rot weiß. Ich durfte mir eine Nationalität aussuchen und als Igor mir von der deutschen abriet, weil ich damit für die Finanzwelt der gläsernen Hochhäuser über uns, zu einem von ihnen gehöre, wählte ich die polnische. Das Obergeschoss gehört den Briten, das Untergeschoss den Jugos, Pakistanis, Latinas und Vietnamesen, so Igors Worte. Ein deutscher Barista ist so selten wie verwirrend für die einheimischen Broker und auf Sympathien der Unsympathen kann ich bestens verzichten. Rot weiß also. Zum Verhängnis wurde mir der Fake nur einmal, als eine tourigruppe aus Krakau mich fröhlich auf Polnisch ansprach und ich einen, haha, polnischen machte und einfach verschwand. Weird aber hey! Eine Besonderheit ist polencosta in kleinster Weise. Unser Partner-Store in Paddington ist fest in indischer Hand, in dem an der Liverpool Street arbeiten fast ausschließlich Mexikaner. Jeder Lebara Store ist eine Gang, jeder PRET A MANGER baut sich einen kleinen Mikrokosmos aus Heimat auf. Hinterfragt wird das nicht. Diese Arroganz auszunutzen, ist der eigentliche Job und die wirkliche Challenge von Magda, Tomek, Igor, Bogdan, Nadia und mir. Kundenkarten werden regelmäßig eingezogen und vermeintlich inspiziert, weil “sorry technischer Fehler Mister” aber eigentlich spielen wir die Bonuspunkte auf unser System, womit wir uns dann später Bargeld auszahlen.
Telefonierenden Kapitalanlegern rechne ich grundsätzlich zusätzliche Waren ab und freue mich dann auf ein Panino mehr in meiner Mittagspause im Lagerschlauch neben der Kühlanlage. Dort sitze ich dann eine halbe Stunde auf Magdas Drehhocker am Schreibtisch und sehe zu, dass ich nicht auf das kastenförmige DELL Notebook oder die unzähligen Hygienezetteln mit ohnehin schon viel zu vielen Eselsohren und kreisrunden Kaffeestempeln kleckere. Nach einer knappen halben Stunde krümmt sich dann Magda wieder kaugummikauend und mit dem rechten Bein unruhig wippend vor das Interface, das noch aus Jahren stammt, als Cappuccino mit Schlagsahne getrunken wurde, und haut ungeduldig irgendwelche Zahlen in eine bunte Tabelle. Wenn sie an einer auffällig roten Spalte innehält und merkt, dass Igor mal wieder ein Kuchenstück oder ein Pudding-Teilchen geklaut hat, flucht sie auf Polnisch, dass er gefälligst seine Finger aus der Vitrine lassen soll — wie soll sie das denn jetzt verbuchen — oder sie telefoniert mit ihrem Freund Szabo, der den Slowaken-Store in Whitechapel managt und den man dreckig aus dem Smartphone lachen hört, wenn man gerade in dem Moment ein paar wabbelige Tüten semi skimmed Milch aus dem Kühlhaus schleppt. Igor kriegt sich dann nicht mehr ein und tut so, als würde er die Glastür der Auslage ganz vorsichtig und leise öffnen und sich direkt noch ein Quarktörtchen schnappen. Dann grinsen wir und Magda zeigt uns den Mittelfinger.
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